Das grosse Solar-Hürdenrennen auf Motta Naluns
Ab Ende 2025 sollen die ersten Panels eines riesigen Solarfeldes auf Motta Naluns Strom produzieren. Der Standort macht Sinn, weil die Panels auf dem Berg im Gegensatz zu Anlagen im Mittelland die Hälfte ihrer Strommenge im Winter produzieren. Doch es gibt noch ein paar Hürden.
Auf dem Dach des Gebäudes der Engadiner Kraftwerke in Zernez steht eine alpine Photovoltaikanlage im Miniformat. Doch die Panels sind nicht wie üblich schräg nach Süden aufgeständert, sondern sie sind vertikal hintereinander angeordnet – wie die Hürden beim Pferderennen. Die Panels sehen auch anders aus. Die Vorder- und Rückseiten sind identisch. Bifaziale Panels werden sie im Fachjargon genannt. Sie erzeugen vorne und hinten Strom. Dieses System ist ideal für den Einsatz in den Bergen. Wenn unter den Solarhürden auf dem Boden Schnee liegt, reflektiert dieser das Sonnenlicht so, dass die Nordseite fast so viel Strom erzeugt wie die Südseite. Darum produzieren die Panels rund 50 Prozent ihres Stroms im Winterhalbjahr, trotz kürzerer Tage.
Das grosse Rennen
Grosse, freistehende Photovoltaikanlagen im Hochgebirge gelten darum als Schlüsseltechnologie in der Energie- und Klimawende. Die eidgenössischen Räte haben im Herbst 2022 die Bewilligungsverfahren vereinfacht und entschieden, dass der Bund bis zu 60 Prozent der Investitionskosten übernimmt, wenn bis zum 31. Dezember 2025 zehn Prozent der bewilligten Leistung einer Anlage am Netz sind. Damit ist das Rennen eröffnet – und das Engadin läuft ganz vorne mit.
«Das Engadin ist perfekt geeignet für alpine Solaranlagen», sagt Heinz Gross, Projektleiter der Engadiner Kraftwerke und Mitglied der Projektierungsgesellschaft ScuolSolar. «Wir haben viel Sonne und viele Standorte, die auch einem mehrstufigen Auswahlverfahren standgehalten haben.» Die Anlagen müssen über der Waldgrenze liegen, weil Rodungen ausgeschlossen sind und in dieser Höhe die Verschattung durch die gegenüberliegenden Hänge vernachlässigbar ist. Schutzgebiete von nationaler Bedeutung sind ebenso ausgeschlossen wie per Verfassung geschützte Moore. Zudem sollte es eine minimale Erschliessung mit Strassen und Stromleitungen geben. Auch zu steile Hänge oder solche, in denen Erosion oder Naturgefahren drohen, kommen nicht in Frage.
Ab in die Skigebiete
«Mit der Gewichtung all dieser Kriterien landen wir im Engadin automatisch in den Skigebieten», sagt Heinz Gross. Es ist sowohl ökonomisch wie auch ökologisch sinnvoll, grosse PV-Anlagen in unmittelbarer Nähe von bereits heute intensiv genutzten Landschaften zu bauen. Das für die Anlage auf Motta Naluns vorgesehene Feld liegt denn auch gleich neben einer Sesselbahn, ist aber vom Tal aus nicht sichtbar. Doch allen Wintergästen auf Pisten und Bergbahnen wird die Anlage auf jeden Fall auffallen.
Trotzdem ist mit Widerstand zu rechnen. Heinz Gross hat deshalb früh die Umweltverbände ins Projekt einbezogen. Sie stören sich nach wie vor an den teils massiven Eingriffen in bisher lediglich für traditionelle Alpwirtschaft genutzte Gebiete. Trotz aller Vorsichtsmassnahmen zieht ein so grosses Bauprojekt Beeinträchtigungen nach sich. Doch Heinz Gross versucht, sich mit den Umweltorganisationen so weit zu einigen, dass sie mit dem finalen Projekt leben können.
Panels auch auf allen Dächern
Einer der Einwände der Umweltverbände ist, dass doch bitte erst auf allen Dächern und an Infrastrukturobjekten Solaranlagen gebaut werden sollen, bevor man bisher unberührte Hänge verbaut. Chasper Alexander Felix, seitens der Gemeinde Scuol für die neue PV-Anlage verantwortlich, hält diesen Einwand für berechtigt: «Wir leben im sonnigsten Teil der Schweiz und haben einen sehr kleinen Anteil an Solarenergieerzeugung. Das muss sich ändern.» Der Grund dafür liegt in den wegen der Wasserkonzessionen in Bergregionen traditionell tiefen Stromtarifen, die PV-Anlagen bisher unwirtschaftlich machten.
Doch die Energiewende braucht sowohl die Grossanlagen auf freiem Feld wie auch jene auf Dächern und an Infrastrukturbauten. Teil des Konzepts der PV-Anlage auf Motta Naluns ist deshalb auch der Ausbau auf Häusern und Infrastruktur in der Region. Das Engadin besteht nicht nur aus denkmalgeschützten Engadinerhäusern. Viele Häuser haben noch immer Dächer aus giftigen Asbestzementplatten, die durch moderne, praktisch unsichtbare In-Dach-PV-Anlagen ersetzt werden könnten. Flachdächer, von denen es ebenfalls einige gibt, könnten ähnliche Solarpanels tragen wie das Gebäude der Engadiner Kraftwerke in Zernez.
Allerdings betont Claudio à Porta, Direktor von Energia Engiadina: «PV-Anlagen auf Dächern und Infrastrukturbauten sind keine Alternative, sondern eine Ergänzung zu grossen freistehenden Anlagen.» Die verfügbaren Flächen sind zu klein und zu kleinteilig, stehen im Winter im Tal viel länger im Schatten, und eine vertikale Montage für viel Ertrag im Winter ist vielerorts nicht möglich. Zudem ist der Zubau niemals so schnell möglich wie bei einheitlichen Grossanlagen.
Zieleinlauf am 31. Dezember 2025
Dass sich ein traditionelles Wasserkraft-Unternehmen wie die EKW für ein grosses Solarprojekt engagiert, ist kein Zufall. «Sonnenstrom und Wasserstrom ergänzen sich ideal», sagt Heinz Gross. «Der Livigno-See liegt sehr nahe und ist ein Saisonspeicher. Strom, der nicht sofort gebraucht wird, könnten wir in diesem See zwischenlagern.» Und auch der Platzbedarf der alpinen PV-Anlagen ist moderat. Die Schliessung der Stromlücke und der Ersatz der Atomkraftwerke benötigen nur etwa die halbe Fläche jener Berghänge, die heute in der Schweiz von Stauseen überflutet sind, oder die doppelte Fläche aller Schweizer Golfplätze.
Die nächsten Hürden, die es nun zu nehmen gilt, sind die Ausschreibung und die Einsprachefristen, in der Hoffnung, dass vor nächstem Frühling eine Baubewilligung vorliegt. Dann könnten die ersten neuen Solarhürden auf Motta Naluns tatsächlich noch vor dem 31. Dezember 2025 erstmals Strom liefern.